Kammermusik auf der Nadelspitze
Meine breit gefächerte Erfahrung als Musiker in den verschiedensten Bereichen führte mich als Komponist zur Reflexion über die soziale Situation beim Musizieren und ihre Auswirkung auf Mikro- und Makrostruktur eines Stückes. Die Abwesenheit eines Dirigats oder räumliche Distanz zum Beispiel verlangen verstärkte Kommunikation und Konfliktbereitschaft der Spieler untereinander – mit der gleichzeitigen Aufgabe, „bei sich“ und dem individuellen Grundschlag zu bleiben und ihn hörbar zu machen. Diese Forderung nach Flexibilität strahlt hinein in jede einzelne musikalische Aktion.
Jede musikalische Idee entsteht auch in der Auseinandersetzung mit den materiellen und physischen Begrenzungen von Spieler und Instrument: Zwischen dem Akzeptieren bestimmter Grenzen und dem Willen nach Überschreitung derselben -notfalls auch mit List und Tücke- eröffnet sich das Spannungsfeld, in dem sich die Musik zwischen Gelassenheit und Getriebenheit bewegen kann.
Besonderes Interesse erhält der Faktor „Instabilität“ in der Komposition. In den Mehrklängen der Holzbläser, dem Halbventilspiel der Blechbläser, den Flageoletts der Streicher und Gleichzeitigkeit verschiedener Tempi zeigt sich die Musik in ihrer Gefährdung, aber auch in ihrem Spielcharakter. Die Absturzgefahr wird jedoch von mehreren Seiten kompensiert: Der Ton mag kippen, aber er kippt in eine voraussehbare Frequenz. Die Spieler mögen sich verlieren, aber sie finden sich bei der nächsten Fermate wieder zusammen. Jeder hat sein individuelles Tempo, aber letzendlich spielen alle denselben Rhythmus nach Art eines Proportionskanons.
Auf der Ebene der Tonhöhe finden sich harmonische Felder, die sich meist alternierend „fortbewegen“ – teils überlappend, teils scharf abgegrenzt. Innerhalb dieser Felder sucht sich die Einzelstimme mäandernd ihren Weg.